Empathie lernen: Wir und die anderen
In einer Welt, die mehr und mehr durch technische Features erobert wird, rückt die Menschlichkeit gefühlt ins Hintertreffen. Doch wir können uns bewusst dafür entscheiden, die neuen Freiheiten zu nützen, um das Miteinander zu vertiefen. Die Grundlage dafür ist bewusste Empathie.
In einem Vortrag zum Thema „Schuld, Scham und Würde“ hatte ich die Möglichkeit, den renommierten Kinder- und Jugendpsychiater Dr. Christoph Göttl kennen zu lernen. In diesem bewegenden Workshop habe ich vieles gelernt, was mir in meiner täglichen Arbeit mit Menschen, aber auch im privaten Miteinander hilft. Dazu gehört das Modell von Tania Singer, das uns Dr. Göttl zum Thema „Wir“ gezeigt hat. Die deutsche Neurobiologin veranschaulicht mit ihrer Theorie die trennende Macht der Abgrenzung. Wenn ein Mensch etwas tut, sagt oder denkt, das nicht zu unserer Meinung passt, werten wir ihn vorschnell ab. Das kennen wir auf der politischen Ebene, in der Gesellschaft, im Kollegenkreis aber auch bei Freunden und Bekannten, bis hin zum Partner. Wir geben unserem Bedürfnis nach Sicherheit und Kontrolle nach und bauen eine unsichtbare Mauer zwischen uns und dem Menschen auf, der mit seiner Meinung oder seinem Tun nicht in unser Weltbild passt. An sich ein ganz logisches Verhalten, das als Schutzfunktion dienen kann. Häufig wird diese Abwehrhaltung durch gossiping sichtbar – wie reden über den anderen, echauffieren uns über seine Sicht der Dinge oder machen uns gar darüber lustig. Es funktioniert: Indem wir andere abwerten, fühlen wir uns sogleich besser. Wir sind geschützt vor anderen Meinungen und erhöhen ganz nebenbei auch noch unseren Selbstwert.
Wir: Gemeinsam stark verbunden
Menschen, die ähnlicher Ansicht sind wie wir selbst, sind uns sympathisch. Sie sind angenehm und wir verbringen gerne Zeit mit ihnen, freuen uns über das gemeinsame Interesse und die gleiche Weltanschauung. Je enger wir mit unserem Gegenüber verbunden sind, desto eher sind wir bereit, über seine Fehler hinweg zu sehen. Wir denken uns „das war wohl ein Zufall“ oder suchen die Schuld am unpassenden Verhalten eher in der Situation als im Menschen. Es gelingt uns klar zu trennen: Zwischen der Person mit all ihren Facetten und ihrem Verhalten, das wir meist gut und manchmal eben nicht so passend empfinden. Doch wir tappen nicht in die Falle der Übergeneralisierung – wir werten den Menschen nicht ab aufgrund dessen, was er in bestimmten Situationen tut, fühlt oder denkt.
Die anderen: Ganz anders
Die Neurobiologin Tania Singer beschreibt in ihrem Modell, was in der Situation der Ausgrenzung passiert: Wir reagieren mit Wut, Ärger, Abwertung, Enttäuschung oder Gleichgültigkeit auf das Gegenüber. Wir grenzen den Menschen aus, beenden Beziehungen, geben uns nicht mehr mit diesem Menschen ab, der anderer Meinung ist als wir. Oder wir bleiben in der Beziehung, obwohl wir immer wieder von dieser anderen Sichtweise getriggert werden. Wenn wir innerlich einen Graben zwischen uns un den Anderen gezogen haben, gelingt es uns nur schwer, zwischen dem Verhalten einer Person und ihrer Persönlichkeit zu unterscheiden.
Dr. Göttl beruft sich auf große Denker, Philosophen und Humanisten, wenn er für den Fokus auf das „wir“ in möglichst allen Beziehungen plädiert. Er nimmt einflussreiche Politiker als anschauliches Beispiel: Ich kann einen Politiker als Menschen mit seinen Bedürfnissen schätzen und wahrnehmen, kann versuchen, sein Verhalten, seine Gedanken und Gefühle aufgrund seiner Lebensgeschichte zu betrachten und kann bewusst sagen: Ich schätze den Menschen als Individuum, auch wenn ich dieses und jenes Verhalten absolut nicht gut heiße.
Was habe ich von der Wir-Haltung?
Bei diesem mindset-shift geht es nicht um blinde Naivität oder Gutmenschen-Gehabe. Vielmehr ist es wohltuend und befreiend für uns, wenn wir unser Gegenüber in seinen vielen Facetten erkennen und sein Verhalten von seiner Persönlichkeit trennen. Ein Werkzeug, um diese neue Denkweise umzusetzen, ist die Disidentifikation: Wir identifizieren den Menschen nicht sofort mit dem, was er tut oder denkt, sondern sehen diese Verhaltensweise als eine Nuance seiner Vielseitigkeit.
Mir persönlich hilft diese neue Sichtweise im Umgang mit Menschen in der Beratung und Therapie ebenso wie im Freundeskreis. Da gibt es immer wieder Sichtweisen von Freundinnen, die mich wirklich stören. Es kostet mir viel Kraft, damit zurecht zu kommen, wie diese oder jene Freundin „ist“. Mit der veränderten Perspektive auf ihr Denken und Handeln fällt es mir deutlich leichter, sie nicht als Person zu kritisieren, sondern ihr Verhalten als unpassend zu benennen. Für mich ist das eine große Erleichterung, zugleich wird es dem Menschen in seiner Vielseitigkeit viel eher gerecht, als die pauschale Abwertung meines Gegenübers.
Weiterführende Literatur: The social neuroscience of empathy
Ein Interview mit der Empathieforscherin: „Wir müssen mehr fühlen" in der ZEIT: https://www.zeit.de/2013/23/neurowissenschaftlerin-tania-singer/seite-2
Hier findest du ihr kostenloses E-Book mit der Anleitung zur „Compassion Mediation“, die in einer Studie als wirksam gegen sozialen Stress eingesetzt wurde. http://www.compassion-training.org/