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Warum unsere Kindheit unser Leben bestimmt

Es dauerte viele Jahre, bis ich diese Worte wirklich annehmen konnte. “So simpel kann es doch nicht sein”, dachte ich mir immer, wenn jemand seine Kindheit für sein späteres Leben verantwortlich machte. Die frühe Scheidung der Eltern, ständige Machtkämpfe zwischen Geschwistern, Streitigkeiten über Erziehung, Arbeitslosigkeit eines Elternteils, finanzielle Sorgen… es gab vielleicht schwierige Phasen, die wir in jungen Jahren (mit)erleben mussten. Und dennoch war ich lange Zeit davor überzeugt, dass wir uns von dem, was rund um uns passiert, nicht zwangsläufig beeinflussen lassen. Mein Studium, meine Ausbildung, meine Selbsterfahrung und vor allem die eigenen wirklich schwierigen Phasen in meinem Leben haben mich eines bessern belehrt. Heute weiß ich: Unser Kindheit bestimmt unser Leben. Zumindest dann, wenn wir früh geprägte Glaubenssätze und Verhaltensmuster nicht reflektieren und wir unbewusst in alten Mustern leben.

Ein Blick ins Gehirn

Wir alle kommen mit einem Gehirn zur Welt, das vor allem ein Ziel hat: Zu lernen, wie wir in dieser uns bisher nur durch die Bauchdecke unserer Mutter bekannten Welt bestmöglich zurecht kommen. Wie müssen wir uns verhalten, damit wir geliebt werden, damit wir nicht leiden müssen, damit es uns gut geht. Wir werden in eine Familie geboren, in der Menschen mit ihrer Geschichte leben, die mit ihrer unterschiedlichen Persönlichkeit auf unsere Wünsche und Bedürfnisse mal besser, mal schlechter reagieren. Wenn wir weinen, versuchen unsere Eltern oder Bezugspersonen, herauszufinden, was wir brauchen, damit es uns besser geht. Je älter wir werden, desto stärker prägen wir ein Bild davon aus, wie wir möglichst gut durch die Welt, besser gesagt durch unsere individuelle Welt kommen. Diese ist für jeden Menschen einzigartig und immer subjektiv, denn selbst zwei Geschwister wachsen nie unter den exakt selben Bedingungen auf: Sie haben zwar die selben Eltern und wachsen im selben Haus auf, doch von der Schwangerschaft über die Geburt bis hin zum Verhältnis zu ihren Eltern, ihrem jeweiligen Geschwister, ihren Freunden, ihrer Schulzeit und ihrer Freizeitgestaltung ist vieles unterschiedlich. Ein Blick ins Gehirn zeigt, wie wir unsere ganz individuelle Welt erbauen:

Gerade in der Kindheit ist unser Gehirn unheimlich lernfähig, das bedeutet vereinfacht gesprochen: Feste Autobahnen werden sehr viel schneller und fester gebaut als im späteren Leben. Das Phänomen der Neuroplastizität beweist aber, dass wir bis ins hohe Alter fähig zur Veränderung sind, doch wir alle wissen, dass es uns ungleich leichter fällt, etwas Neues in jungen Jahren zu lernen, als später im Erwachsenenalter. Genau deshalb fällt es uns auch so schwer, alte Gewohnheiten zu verändern. Dieses Ausbilden von Autobahnen in unserem Gehirn passiert in den aller seltensten Fällen bewusst, vielmehr machen wir von Geburt an die unterschiedlichsten Erfahrungen und bilden durch das Erleben, Fühlen und die Gedanken in diesen Situationen unsere Nervenverbindungen im Gehirn aus. Je stärker unsere emotionale Beteiligung in dieser Situation ist, desto stärker die Ausprägung. Wir erinnern uns meist das ganze Leben lang an das schönste Weihnachtsgeschenk, den aufregendsten Schultag, das lustigste Erlebnis mit unserem besten Freund. Positive Emotionen wie Freude, Aufregung, Neugierde und Spaß funktionieren wie Dünger für unsere Nervenverbindungen. Dies gilt jedoch nicht nur für angenehmen Emotionen, sondern auch für jene, die wir lieber nicht erleben möchten: Wir spüren noch den Schmerz, als das geliebte Haustier verstorben ist. Oder die Traurigkeit, nachdem wir aus einer Gruppe ausgegrenzt wurden. Die Angst, als wir unsere Eltern bei einem Streit beobachtet haben. Einerseits werden diese Autobahnen durch ihre Intensität gestärkt, andererseits durch Wiederholung. Wenn wir unsere Eltern bei einem Streit beobachten, verhält sich unser Gehirn anders, als wenn wir uns regelmäßig in den Schlaf geheult haben aus Angst, dass wir bald ohne Papa dastehen. Ob angenehm oder schmerzhaft, unser Gehirn speichert für intensive Erfahrungen mit den damit verbundenen Gefühlen, Gedanken und Verhaltensweisen ab. Aus dem, was wir erleben, werden unsere Glaubenssätze. Und diese wiederum bestimmen unser ganzes späteres Leben. Sie bestimmen unser Bild von der Welt, in der wir leben und wir uns in ihr verhalten sollten, um möglichst gut durchs Leben zu kommen. Die Denk- und Verhaltensmuster, die wir in jungen Jahren so leicht und dabei so fest ausprägen, bestimmen auch unser Selbstbild und unseren Selbstwert. Sie diktieren uns, was wir können und was wir nicht können. Sie sagen uns, ob wir mutig und voller Selbstvertrauen sind, weil wir bereits die Erfahrung machen durften, dass das Leben zwar manchmal herausfordernd, aber dennoch eine spannendes Abenteuer ist. Oder sie reden uns ein, dass wir lieber nicht zu weit über den Tellerrand blicken sollten, lieber auf der Hut sein sollten und uns vor Veränderungen in Acht nehmen sollten. Ganz häufig werden Glaubenssätze durch alte Sprichwörter und Redewendungen ausgeprägt, wie zB Schuster bleib bei deinen Leisten.

Bis du dem Unbewussten bewusst bist, wird es dein Leben diktieren und du wirst es Schicksal nennen. (C.G. Jung)

Woher kommen meine Glaubenssätze?

Wodurch bilden wir also diese Glaubenssätze aus, die uns zu dem machen, was wir heute sind? Marie Forleo spricht in ihrem Buch “Everything is figureoutable” von fünf Quellen, die unser Denken, Fühlen und Verhalten maßgeblich beeinflussen:

  1. Unsere Umwelt: Allen voran unsere Eltern, Geschwister und nahe Bezugspersonen. Wie sie sich verhalten, ihre Art mit Themen wie Geld, Liebe, Erziehung, Beruf, Ausbildung, Werten, Ansprüchen, Erwartungen umzugehen, prägt uns von klein auf. Spätestens ab der Schule gehören auch die Ansichten unserer Mitschüler, Freunde und Lehrern zu den Menschen, die uns mit ihrer Art, das Leben zu leben, also durch ihre jeweiligen Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen meist ganz nebenbei beeinflussen.

  2. Unsere Erfahrungen: Jede Situation hat das Potential, in unserem Gehirn das wichtige neue Lernerfahrung abgespeichert zu werden. Wenn ein Erlebnis emotional besonders intensiv erlebt wird oder immer wieder vorkommen, bildet unser Gehirn unsere Reaktion (Gefühle, Gedanken und Verhalten) als Autobahn aus. Häufig werden unsere Erfahrungen auch von unserer Umwelt beeinflusst - denn wenn etwa in unserer Familie bestimmte Situationen von vornherein vermieden wurden, prägt dieses ängstliche Vermeidungsverhalten auch unsere Erfahrung.

  3. Wissen: Lehrinhalte, Forschungsergebnisse, Expertenwissen von Vorgesetzten, Lehrern, Professoren, Ärzten, Therapeuten und anderen Menschen, denen wir eine gewisse Kompetenz in einem Bereich zutrauen, beeinflussen unsere Glaubenssätze ebenso. Das Wissen etwa, dass wir alle zu einem großen Teil von unseren früh geprägten Glaubenssätzen durchs Leben begleitet werden, kommt aus der psychologischen Forschung und wurde von Experten wie meinen Professoren in der Uni weitergegeben.

  4. Unsere Vorbilder: Wir alle haben Menschen, die uns beeindrucken. Ob es sich dabei um historische Persönlichkeiten, entfernte Bekannte, Comichelden oder berühmte Größen unserer Zeit handelt - diese Menschen stärken mit ihrer Art, das Leben zu leben, unsere Sichtweise auf die Dinge.

  5. Unsere Träume: Unsere Fähigkeit, kreativ zu sein, Ideen zu entwickeln und “groß” zu denken, kann unsere Autobahnen verändern. Wenn wir eine Vision haben, die wir unbedingt umsetzten möchten, können wir alte Glaubenssätze hinter uns lassen und neue, unserem Ziel dienlichere entwickeln.

Meine Glaubenssätze: Panik durch Existenzängste

Bei mir selbst konnte ich später erkennen, dass ich ein sehr starkes Muster der Existenzangst abgespeichert hatte und dieses mein Leben diktierte. Als ich drei Jahre alt war, ließen sich meine Eltern scheiden. Es gab weder einen Rosenkrieg noch kann ich mich an Streitereien oder ähnliches erinnern. Als junge Erwachsene wäre ich nie auf die Idee gekommen, meine Ängst und Sorgen mit der Scheidung meiner Eltern in Verbindung zu bringen. Ganz im Gegenteil: Im Vergleich zu vielen meiner Freundinnen hatte ich nie einen Vater zuhause, dem ich Respekt entgegenbringen musste und vor dem ich mich für irgendetwas rechtfertigen hätte müssen. Bei dieser an sich nicht spektakulären Scheidung bestand meine Mutter jedoch aus Stolz darauf, von meinem Vater finanziell NICHT unterstützt zu werden. Sie blieb mit meiner Schwester, mir, einem großen Schuldenberg aus dem gemeinsamen Restaurant und den Ansprüchen einer kurz zuvor noch sehr wohlhabenden Unternehmerin zurück. Von einem Tag auf den anderen war sie auf sich alleine gestellt und schlichtweg überfordert, auch und vor allem finanziell. Diese Herausforderung begleitet uns, bis ich im Alter von 14 Jahren von zuhause auszog. Meine Mutter versuchte zwar immer, mir alles zu ermöglichen, doch das Geld reichte weder für Markenkleidung, noch für Schulreisen und war oft auch für die Dinge des täglichen Lebens zu knapp. Im Nachhinein betrachtet möchte ich keinen Tag meiner Kindheit missen und heute weiß ich, dass ich der Mensch bin, der ich bin, weil mich diese Herausforderungen dazu gemacht haben. Doch um zu dieser Zufriedenheit zu gelangen, musste ich erst einen starken Entwicklungsprozess durchleben. Das Thema Geldnöte war nämlich bis zu meinem 30. Lebensjahr ständig präsent in meinem Leben, mal mehr, mal weniger bewusst. Long story short: Ich erkannte, warum ich immer das Gefühl hatte, “nicht genug” zu haben, egal wie hoch mein Kontostand war. Ich erkannte, wieso ich meinen Wert so oft an Geld knüpfte und ich in Panik verfiel, wenn meine Bankomatkarte streikte - da war sofort wieder dieses Gefühl von früher “wir haben zu wenig”. Meine Knie wurden weich, mir wurde flau im Magen, ich fühlte mich panisch und erstarrte förmlich. Auch dieses altbekannte Schamgefühl breitete sich innerhalb von Sekunden aus, wenn ich an der Kasse zu wenig Geld mit hatte oder mit Freunden, die mehr als ich verdienten über ihr Gehalt sprach. Obwohl ich längst genug Geld verdient hatte, um mir genug zu Essen und ein Dach über dem Kopf zu leisten, war ich sofort wieder in alten Mustern gefangen, sobald ich nur die leisteste finanzielle Einschränkung witterte. Noch schlimmer war es nach jeder etwas größeren finanziellen Ausgabe - vor allem, wenn ich für mich selbst Geld ausgab. Das fing schon dabei an, dass ich tagelang schlecht fühlte, wenn ich beim Frisör € 50 zahlte und mehr als einmal brachte ich meine Shoppingausbeute am nächsten Tag wieder zurück ins Geschäft, um das Geld wieder zurück auf meinem Konto zu haben.

Alte Muster erkennen

Ganz, ganz, (ganz!) wichtig: Unsere Glaubenssätze sind nicht per se schlecht! Unsere Psyche macht nichts ohne Sinn und so schwer es auch im ersten Moment zu erkennen ist: Unsere Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen hatten und haben zum großen Teil ihre Existenzberechtigung. Bei den angenehmen automatischen Mustern fällt uns dies gar nicht auf: Wie selbstverständlich leben wir unseren Alltag im Autopilotenmodus, ohne darüber nachzudenken, dass wir uns morgens anziehen müssen, wie wir zur Arbeit kommen, wie man sich in Gesellschaft verhält, dass wir unser Gegenüber grüßen… All diese Verhaltensweisen haben wir ebenfalls einmal erlernt. Sie stören uns ja nicht, ganz im Gegenteil, sie erleichtern unser Leben ungemein. Doch wenn es darum geht, unser Leben zum besseren zu verändern, müssen wir Bilanz ziehen: Was stört uns an uns? Welche Gefühle, Gedanken, Verhaltensweisen hindern uns daran, das Leben nach unseren Vorstellungen zu leben?

Ein Zeichen dafür, dass wir im alten Muster leben, kann das diffuse Gefühl sein, dass wir 1. immer gleich auf unterschiedliche Herausforderungen reagieren (sehr ähnliche Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen zu zeigen, zB aggressiv, traurig, ängstlich… zu reagieren) und 2. bei genauer Betrachtung spüren, nicht angemessen zu reagieren (zB gleich laut werden, uns total zurückziehen, plötzlich unter Ängsten und Sorgen leiden, die altbekannte innere Stimme zu hören, die uns scharf kritisiert und uns beschuldigt, das schlechte Gewissen…).

Auf zum neuen Leben

Unsere Kindheit prägt unser Erleben und Verhalten ein Leben lang. Sind wir also zeitlebens Gefangene unserer Vergangenheit? Nein! Denn dank der Neuroplastizität, der lebenslangen Fähigkeit unserer Nervenzellen, neue Verbindungen auszubilden, können wir lernen, Dinge anders zu sehen und anders darauf zu reagieren, Veränderung bedeutet aus gehirnphysiologischer Sicht nichts anderes als Lernen, also neue Autobahnen zu bauchen. Dies ist in jungen Jahren viel einfacher als später, denn in der Kindheit passiert das Lernen von neuen Erfahrungen, Denkweisen und Verhaltensmustern ganz unbemerkt und nebenbei. Genau deshalb dauert es im späteren Leben auch oft so lange, bis wir dahinter kommen, woher unsere unbändige Wut, die ständige Niedergeschlagenheit, die ungelöste Trauer kommt - früh erlebte Situationen haben sich als Lernerfahrungen in unser Gehirn gebrannt und kommen uns später als ganz normale Verhaltensweisen vor. Doch es ist möglich, was wir dazu brauchen ist der unbedingte Wille, etwas zu verändern und ganz viel Übung. Schließlich müssen wir im Gehirn neue Autobahnen bauen und zugleich versuchen, die alten wieder zu Feldwegen verkümmern zu lassen. Das dauert seine Zeit, doch es lohnt sich.



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