Keine Zeit für Achtsamkeit?
Wenn wir immer darauf warten, bis wir täglich eine Stunde Zeit haben für unsere Achtsameitsübungen, verschenken wir wertvolle Momente. Denn in den Augenblicken des Alltags gibt es zahlreiche Möglichkeiten, um achtsamer und bewusster zu werden.
Wenn du diesen Beitrag liest, hast du dir bestimmt schon öfter vorgenommen, achtsamer, bewusster, einfach mehr im Moment zu leben. Vielleicht hast du auch schon einen Podcast-Beitrag dazu angehört oder dir ein Buch zum Thema Achtsamkeit besorgt. Doch hast du dir schon die Zeit genommen, um die Übungen auch auszuprobieren? Mehr als ein, zwei Mal?
Die meisten Menschen haben das Gefühl, zu wenig Zeit für Achtsamkeit zu haben. Sie probieren ein, zwei Mal den Bodyscan aus, hören sich vielleicht ein Mal eine Achtsamkeitsmeditation an. Und hören dann, allen guten Vorsätzen zum Trotz, wieder auf, ihr Bewusstsein zu stärken. “Das mach ich dann, wenn ich im Urlaub bin”, höre ich oft. Oder:”Ich bin berufstätig, habe Familie, muss einen Haushalt führen… da geht sich das nicht aus!”
So viel zu tun und so wenig Zeit
Ich weiß genau, was gemeint ist. Mein Tag als selbständige Psychologin und Coach, Mutter zweier wunderbarer Tochter, Dogmum eines Golden Retriever und leidenschaftliche Bloggerin denke ich manchmal am Morgen schon: Wie soll ich heute alle ToDos in einen Tag packen? Ich habe zu viele Aufgaben und zu wenige Stunden zur Verfügung… Das Gedankenkarussell beginnt, sich zu drehen… Dann betrachte ich das Ganze ein bisschen distanzierter und mache mir bewusst (ja, genau, das ist Achtsamkeit): Ich mache, was ich schaffe, eine Aufgabe nach der anderen. Und wenn ich mir abends noch eine lange Yogaeinheit gönne, statt das Chaos in der Küche zu beseitigen, wird sich die Welt deshalb morgen auch noch weiterdrehen.
Die Welt dreht sich weiter - auch ohne uns
Selbst an diesen Tagen, die vollkommen “ausgebucht” sind, finde ich Zeit für achtsame Augenblicke. Genau darum geht es nämlich: Um diese ein, zwei Minuten, in denen ich mich aus dem Chaos des Alltags ausklinke, ein, zwei tiefe Atemzüge nehme und mich selbst von außen betrachte. Ein bisschen Humor hilft, um zu erkennen: Soooo wichtig ist weder das eine, noch das andere. Ja, ich habe mir einiges vorgenommen, ja, da sind die Verpflichtungen des Alltags, ja, da sind die Therapietermine, die Haushaltstätigkeiten, die sich nicht von selbst erledigen, der Hund, der auf seine zweite Gassirunde wartet… Aber wenn ich mich (wie früher so oft) noch mehr stresse, schaffe ich es auch nicht, diese Aufgaben schneller zu erledigen. Ganz im Gegenteil - ich fühle mich schnell erschöpft, brauche mehr Pausen oder falle Abends komplett fertig ins Bett.
Achtsamkeit mit allen Sinnen üben
Durch diese ganz kleinen achtsamen Momente zwischendurch gelingt es mir, aus dem Hamsterrad des Alltags auszusteigen. Ich sage mir immer wieder ganz bewusst: Im Hier und Jetzt, in diesem Moment, gebe ich mein Bestes. In diesem Augenblick gibt es vieles zu entdecken. Ich spüre bewusst, was mir meine Sinne mitteilen, wenn ich sie achtsam danach frage: Was sehe ich? Was höre ich? Was rieche ich? Was schmecke ich? Was spüre ich?
Durchatmen in der Hektik des Alltags
Diese kleinen Insel der Achtsamkeit sind wunderbare Möglichkeiten zum Durchatmen und Krafttanken zwischendurch. Ich erkenne dann, dass ich meine Aufgaben auch in Ruhe, ohne Hektik, eine nach der anderen erledigen kann. So habe ich am Ende des Tages meist mehr geschafft, als ich am frühen Morgen noch erwartet hatte. Und ich bin zudem gelassener und habe noch genügend Energie, um den Abend nach getaner Arbeit in Ruhe zu genießen.
Zeit für Achtsamkeit? Die ist immer Jetzt
Wir müssen also nicht darauf warten, bis wir endlich nichts mehr zu tun haben, um täglich 45 Minuten lang den Bodyscan zu üben. Ja, diese ausgedehnte Praxis ist wohltuend und ja, sie stärkt unser Bewusstsein. Doch wer von uns hat schon so viel Zeit? Wenn wir hingegen im Alltag immer wieder ganz bewusst ein paar Augenblicke achtsam aus dem Hamsterrad aussteigen, merken wir, wie wir immer achtsamer und bewusster werden. Ein wunderbares Gefühl!
ANLEITUNG: Der Bodyscan
DIE Achtsamkeitsübung aus dem MBSR-Programm von Jon Kabat Zinn: Der Bodyscan. In wenigen Minuten verbindest du Körper und Geist, wirst entspannt und achtsam, kommst ins Hier und Jetzt.
Diese Übung entstammt dem Original MBSR-Programm (Mindful Based Stress Reduction) des US-Psychologen Jon Kabat-Zinn, der maßgeblich dazu beigetragen hat, dass Achtsamkeit ihren Weg in die Alltagspsychologie gefunden hat. Der Bodyscan ist ganz einfach zu erlernen und bereits nach wenigen Tagen täglicher Übung wirst du erste positive Veränderungen bemerken: Du wirst lernen, mit Hilfe deiner Körperempfindung unangenehme Gedanken, Gefühle und Empfindungen zu entdecken und deine Aufmerksamkeit bewusst zu lenken und zu verändern. Denn: Deinen Körper hast du immer bei dir! Ich empfehle dir, den Bodyscan über zumindest drei Wochen lang täglich, am besten zur gleichen Zeit, zu üben.
Bevor du beginnst: Suche dir einen ruhigen Platz, an dem du für die nächsten Minuten ungestört bist. Schalte dein Handy in den Ruhemodus. Führe diese Übung im Sitzen oder im Liegen durch.
Es geht bei dieser Übung nicht darum, sie möglichst perfekt durchzuführen. Der einzige Weg, sie „falsch“ zu machen, besteht darin, sie gar nicht zu machen. Vielleicht fällt es dir anfangs schwer, dich auf die Übung zu konzentrieren. Das geht den meisten Menschen so und ist gar kein Problem. Du kannst ganz einfach immer wieder geduldig und bewusst zur Übung zurückkehren. Die Audiodatei hilft dir dabei. Wenn du lieber deine eigene Stimme hörst, kannst du die Übung auch mit deinem Smartphone aufnehmen.
Die Bodyscan-Anleitung
Lege dich bequem hin und schließe deine Augen. Achte darauf, dass dir angenehm warm ist. Nimm dir eventuell eine Decke.
Nimm einen tiefen Atemzug: Atem durch die Nase ein, spüre, wie sich deine Bauchdecke hebt und achte darauf, wie sie sich beim Ausatmen wieder senkt. Beobachte deinen Atem für drei Atemzüge. Lass den Atem kommen und gehen. Atme ganz in deinem Rhythmus.
Spüre, wie sich dein Körper auf der Unterlage anfühlt. Spüre die Stellen, wo dein Körper die Unterlage berührt. Erlaube dir, mit jedem Ausatmen ein bisschen tiefer in die Unterlage zu sinken.
Bei dieser Übung geht es darum, soweit wie möglich zu spüren, wie sich dein Körper anfühlt, von Kopf bis Fuß. Das Ziel ist nicht die vollkommene Entspannung. Das kann vielleicht passieren, vielleicht aber auch nicht.
Konzentriere dich nun auf deinen Bauchraum. Spüre, wie sich deine Bauchdecke beim Einatmen hebt, beim Ausatmen senkt.
Richte nun deinen Fokus auf deine Beine: Spüre, wie sich deine beiden Beine anfühlen. Konzentriere dich auf das rechte Bein; den rechten Oberschenkel, den rechten Unterschenkel, den rechten Fuß und die rechte Fußsohle bis in alle Zehenspitzen des rechten Fußes. Dann konzentriere dich auf das linke Bein; den linken Oberschenkel, den linken Unterschenkel, den linken Fuß und die linke Fußsohle bis in alle Zehenspitzen des linken Fußes.
Spüre, wie dein Atem durch deinen Körper fließt: Durch den Bauchraum, hinab bis in deine Beine. Beide Oberschenkel, beide Unterschenkel, beide Füße bis in alle zehn Zehen.
Nun richte deine Aufmerksamkeit auf deine Arme: Spüre, wie sich deine beiden Arme anfühlen. Konzentriere dich auf den rechte Arm; den rechten Oberarm, den rechten Unterarm, die rechte Hand und alle Fingerspitzen der rechten Hand. Konzentriere dich auf den linken Arm; den linken Oberarm, den linken Unterarm, die linke Hand und alle Fingerspitzen der linken Hand.
Spüre, wie dein Atem durch deinen Körper fließt: Durch den Bauchraum, durch deine Beine, weiter bis in deine beiden Arme: Die Oberarme, die Unterarme, die beiden Hände bis in alle zehn Fingerspitzen.
Richte nun deinen Fokus auf deine Schultern, deinen Nacken und deinen Kopf. Spüre, wie sich deine Schultern anfühlen. Fühle, wie sich dein Nacken anfühlt. Konzentriere dich auf deinen Kopf und fühle, wie sich dein Kopf anfühlt.
Spüre, wie dein Atem durch deinen Körper fließt: Durch den Bauchraum, durch deine Beine, durch deine Arme und hinauf bis in deine Schultern, deinen Nacken und deinen Kopf. Spüre, wie dein Atmen durch deinen ganzen Körper fließt.
Wenn du in irgendeinem Bereich deines Körpers eine unangenehme Empfindung, eine Verspannung oder einen Schmerz spürst, kannst du dich darauf konzentrieren. Atme bewusst in diese Empfindung hinein. Mit der nächsten Ausatmung kannst du diese Empfindung loslassen.
Konzentriere dich nun wieder auf deinen Atem. Spüre, wie du sanft einatmest und wieder aus, ganz in deinem Rhythmus, ganz in deinem Tempo. Spüre, wie sich dein Körper anfühlt: Von Kopf bis Fuß, in deinem Bauchraum, den Beinen und Füßen, den Armen und Händen, in deinen Schultern, in deinem Nacken, in deinem Kopf. Genieße das Gefühl des Atems, der frei und ungehindert durch deinen ganzen Körper strömt.
Nimm dann noch einen tiefen Atemzug und spüre die wohltuende Empfindungen in deinem Körper. Dann, wenn es für dich passt, kannst du die Augen wieder öffnen. Das angenehmen Empfinden kannst du mit in deinen Alltag nehmen.
Was bringt dir diese Übung?
Diese sehr wirkungsvolle Übung hilft dir, besser mit stressigen Situationen und Herausforderungen umzugehen und mehr Achtsamkeit in deinen Alltag zu bringen. Deinen Körper und deinen Atem hast du immer bei dir. Durch den bewussten Fokus auf deine Körperregionen gelingt es dir, deine Gedanken zu steuern, anstatt sie wie gewohnt umherschwirren zu lassen. So übst du die Kontrolle über deine Gedanken. Die Konzentration auf die jeweiligen Körperregionen erleichtert diese bewusste Steuerung deiner Gedanken. In Verbindung mit deinem Atem, den du immer bei dir hast, gelingt es noch mehr, dich ins Hier und Jetzt zu holen.
Diese Übung entstammt dem MBSR-Programm (Mindful Based Stress Reduction) des US-Psychologen John Kabat-Zinn. Die Wirksamkeit des Atemraums wurden mittlerweile in zahlreichen wissenschaftlichen Studien bestätigt. Das Originalprogramm, das für Patienten in einer Klinik konzipiert wurde, umfasst mehrere Wochen intensiver Übungen. Ich selbst habe die Erfahrung gemacht, dass diese kürzere Version, wie ich sie nenne, über mehrere Wochen durchgeführt, zu einer deutlichen Verbesserung der Achtsamkeit und des Bewusstseins führt. Die psychologische Forschung zeigt uns ebenso Hinweise darauf, dass bereits diese kurzen Versionen nachweislich positive Veränderungen mit sich bringen.
Ich wünsche dir viel Freude beim Üben und Ausprobieren!