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Selbstmitgefühl: Sei dir selbst ein Freund

Das Streben nach Selbstwert ist ein menschliches Grundbedürfnis. Wenn du deine Aufgaben gut erfüllst, bist du mit dir selbst zufrieden – dein Selbstwert steigt. Je öfter wir unsere eigenen Erwartungen erreichen, desto höher unser Selbstwert. Ein großer Teil deines Selbstwertes ist im Erwachsenenalter daran gekoppelt, wie gut du gerade mit den Aufgaben in deinem Leben zurecht kommst. In Zeiten des Erfolgs haben wir also einen hohen Selbstwert. Da gibt es gute Tage, an denen du mit dir sehr zufrieden bist. Und dann gibt es immer wieder diese Tage, an denen du dich selbst kaum im Spiegel ansehen kannst, weil du deinen eigenen Erwartungen einfach nicht gerecht wirst. Dieser Wechsel ist ganz natürlich. So sind wir Menschen nun mal - manchmal sehr zufrieden mit uns selbst und manchmal total kritisch. Gerade in diesen schwierigen Zeiten tut es uns gut, liebevoll mit uns umzugehen, auch wenn wir gerade nicht sehr zufrieden mit uns sind. Die Psychologie hat erst vor wenigen Jahren eine weitere Fähigkeit entdeckt, die ins uns Menschen verborgen liegt: Das Selbstmitgefühl. Die Übersetzung aus dem Englisch „Selfcompassion“ ist dabei leider etwas holprig. Für viele Menschen klingt “Mitgefühl” nach “Mitleid”, doch darum geht es nicht. Anders als der Selbstwert ist das Selbstmitgefühl nicht an Erwartungen und Leistungen geknüpft. Durch diese liebevolle Einstellung zu dir selbst kannst du immer für dich da sein, einfach weil du bist, wie du bist. Selbstmitgefühl ist ein wichtiger Teil der Selbstliebe und fühlt sich wohltuend an: So als würdest du dich selbst in den Arm nehmen und dich trösten. Denn ganz egal wie gut du eine Herausforderung meisterst oder ob du gerade daran scheiterst: Du kannst gut zu dir sein. Diese echte Zuwendung zu dir selbst ist die Grundlage für authentische Selbstliebe.

Sei gut zu dir

Zahlreiche Studien haben herausgefunden, dass wir diese verborgene Fähigkeit trainieren können – ebenso wie Achtsamkeit und Akzeptanz. Durch das achtsame Üben von Selbstmitgefühl kannst du lernen, dich zu lieben und dich zu akzeptieren für das, was du bist – mit all deinen Stärken und Schwächen! Kristin Neff, Professorin für Psychologin an der Universität Berkley und Bestseller-Autorin zum Thema Selbstmitgefühl, forscht seit Jahrzehnten darüber, wie hilfreich, wohltuend und gesundheitsfördernd Selbstmitgefühl ist. Sie hat selbst erlebt, wie wohltuend diese Haltung gerade in schwierigen Zeiten sein kann. Selbstmitgefühl ist ein wichtiger Bestandteil der buddhistischen Tradition und lässt sich vereinfacht so beschreiben: Sei zu dir selbst so gut, wie du es zu einem lieben Freund/ Familienmitglied bist. In uns allen liegt die Fähigkeit verborgen, gut zu uns selbst zu sein. In erfolgreichen Zeiten fällt uns dies viel leichter als in schwierigen Phasen. Die meisten von uns reagieren mit Selbstvorwürfen und Selbstkritik.

Du bist du. Und das ist gut so

Wir alle wünschen uns, jemanden zu haben, der uns liebt so wie wir sind, der uns akzeptiert und uns stützt, auch wenn es uns einmal nicht so gut geht. Dieses Bedürfnis ist bereits von Geburt an in uns angelegt. Menschenkinder suchen instinktiv eine Bezugsperson, die sie bedingungslos annimmt und sie liebt. Als Erwachsenen bleibt dieses Bedürfnis in uns erhalten, wenn auch nicht mehr so stark ausgeprägt. Wenn es uns dann nicht gelingt, uns selbst zu lieben und uns anzunehmen, wie wir sind, dann passiert häufig folgendes: Wir sind leicht dazu verleitet, diese Liebe und Anerkennung im Außen zu suchen – durch unseren Partner, im Bekanntenkreis oder auch auf social media. Dieser Wunsch ist ganz natürlich. Meist gelingt es uns auch, einen Teil dieser Liebe durch andere Menschen zu erleben. Viele Menschen holen sich diese Anerkennung durch ihre Leistung - sie stürzen sich in ihre Aufgaben, in den Job aber auch in private Verpflichtungen. Sie geben immer 100 Prozent, um durch ihr Engagement positiv aufzufallen und somit Anerkennung zu erhalten. Von außen, aber auch von innen. Wenn es dir so geht, dann hast du wohl den (weit verbreiteten) Glaubenssatz in dir: Ich muss etwas leisten, um ein wertvoller Mensch zu sein. Weit verbreitet ist auch der Versuch, sich die Anerkennung durch materielle Dinge zu erkaufen: Ein tolles Auto, stylische Kleidung, eine teure Uhr, eine schöne Wohnung sorgen zumindest eine Zeit lang dafür, dass wir uns besser fühlen. Wir werden vielleicht bewundert und haben das Gefühl, Teil einer bestimmten Gruppe von Menschen zu sein. Der Gruppe, die sich ein teures Auto oder einen Luxusurlaub leisten kann. Doch dieses Gefühl der Zugehörigkeit und Anerkennung ist niemals von Dauer.

Drei Schritte des Selbstmitgefühls

Ein im ersten Moment ungewöhnlicher Weg, diese Liebe und Akzeptanz zu finden, ist das Selbstmitgefühl. Diese Eigenschaft liegt in jedem von uns verborgen, doch nur wenige haben gelernt, gut zu sich selbst zu sein. Anders als beim Selbstwert geht es beim Selbstmitgefühl nicht darum, sich selbst möglichst gut zu bewerten. Vielmehr ist Selbstmitgefühl eine liebevolle Grundhaltung uns selbst gegenüber, ganz egal wie erfolgreich wir gerade sind. Selbstmitgefühl besteht aus drei Bausteinen:

  1. Freundlichkeit zu sich selbst

Wenn wir uns selbst wirklich liebevoll und freundlich begegnen, kommen wir viel besser durch die großen Herausforderungen unseres Lebens. Bisher hast du vielleicht immer wieder versucht, noch härter an dir zu arbeiten, wenn dir etwas misslungen ist. Dahinter steckt oft der Glaube, dass wir zu locker mit uns selbst umgegangen sind. Viele Menschen denken, dass sie sich selbst möglichst hart und streng behandeln müssen, um gute Leistungen zu bringen. Sie haben sogar Angst davor, dass sie durch zu viel Selbstmitgefühl zu faulen und unmotivierten Versagern werden. Doch genau das Gegenteil ist der Fall. Denn durch die wertvolle Grundlage des Selbstmitgefühls können wir uns das stabile Fundament bauen, auf dem echte Höchstleistungen möglich sind, ohne auszubrennen. Anders als auf Basis eines instabilen Selbstwertes, der rein an persönlichen Erfolg und Leistung gekoppelt ist, ist das echte Selbstmitgefühl ein stabiles, überdauerndes Tragewerk für alles, was wir im Leben tun. Von dieser stabilen Basis aus können wir unsere Aufgaben besser in Angriff nehmen. Ob wir sie meistern oder daran scheitern, hat dann nicht mehr so schwerwiegende Folgen. Das Bild, das wir von uns selbst als Mensch mit Stärken und Schwächen haben, wird durch eine Niederlage nicht zerstört. Durch bewusstes Selbstmitgefühl wissen wir, dass diese Niederlagen genauso zum Mensch sein dazu gehören wie die großen Erfolge in unserem Leben. Wir befreien uns also selbst von überzogene Erwartungen und hohem Leistungsdruck. So haben wir mehr Lebensenergie zur Verfügung, um uns auf unsere persönlichen Ziele zu konzentrieren. Und wenn wir scheitern, verzweifeln wir daran. Dank unserer offenen und wohlwollenden Haltung uns selbst gegenüber wissen wir: Wir haben unser Bestes gegeben, Scheitern gehört dazu, das Leben geht weiter.

2. Verbundenheit als Mensch

Sobald etwas Schlimmes passiert, sobald wir eine schwierige Zeit erleben, haben wir sofort das Gefühl: Ich bin der/die Einzige, der so etwas erleben muss. Doch bei genauerer Betrachtung erkennen wir: Wir sitzen alle im selben Boot. Jeder und jede von uns hat schon einmal eine schwierige Situation durchgemacht. Sobald wir uns isoliert fühlen, ist es noch schwieriger, mit dieser Aufgabe umzugehen. Denn eine der schlimmsten Erfahrungen für uns Menschen ist es, einsam und alleine zu sein. Wir alle wissen, wie unvermeidbar die schwierigen Zeiten zu unserem Leben dazu gehören. Auch wenn wir sie gerne verdrängen und am liebsten nicht wahrhaben wollen. Viele Menschen spüren heute einen starken Druck auf sich lasten. Die Leistungsgesellschaft mit ihren hohen Ansprüchen ist ein Grund dafür. Wir haben ständig das Gefühl, besser, erfolgreicher, glücklicher sein zu müssen. Das „perfekte Leben“, wie es uns in den sozialen Medien ständig vorgegaukelt wird, führt ebenfalls zu hohem Druck. Sobald wir die schwierigen Seiten des Lebens zu spüren bekommen, haben wir sogleich das Gefühl, versagt zu haben. Das „perfekte Leben“ ist wieder gescheitert. Und meist denken wir, dass es wirklich nur uns so geht, während alle anderen erfolgreich, glücklich und zufrieden sind. Wenn wir erkennen, dass wir alle Menschen sind und wir alle schwierige Erlebnisse durchmachen, fühlen wir uns verbunden und spüren, wie die Last leichter wird. Dieses Wissen erleichtert uns den Umgang mit Herausforderungen.

3. Achtsamkeit und bewusstes Leben statt Gefangen sein in alten Mustern

Im Laufe meiner Tätigkeit als selbstständige Psychotherapeutin und Coach ist mir aufgefallen, dass wir vor allem eine Fähigkeit brauchen, um unsere Gefühle, unsere Gedanken und unser Verhalten zu verändern: Die Achtsamkeit. Wenn du täglich morgens und abends deine Achtsamkeitübungen durchführst, sind dir bestimmt schon positive Veränderungen in deinem Alltag aufgefallen. Du erkennst schneller, dass deine alten Muster aktiv sind, du hast gelernt, deine Gedanken als genau das zu beobachten, was sie sind – mentale Ereignisse, denen du nicht immer glauben musst Achtsamkeit hilft dir auch dabei, dich selbst liebevoller und mit mehr Verständnis zu behandeln. Für Kristin Neff, die Expertin für Selbstmitgefühl, ist Achtsamkeit die dritte wichtige Zutat für mehr Selbstmitgefühl. Denn wenn du dein Leben bewusster und voll Achtsamkeit auf den jeweiligen Moment gestaltest, kannst du immer wieder hinspüren: Tut mir das, was ich als nächstes Tun möchte, wirklich gut?

Ein Beispiel aus dem Alltag: Feierabend nach einem stressigen Tag

Ich möchte dir ein Beispiel geben: Vielleicht kennst du das ja: Nach einem anstrengenden Tag kommst du nach Hause, schnappst dir noch eine Tüte Chips und lässt dich ins Sofa fallen. Unter dem Vorwand, dir selbst etwas Gutes zu tun und dich endlich mal zu entspannen, verbringst du die nächsten zwei Stunden vor dem Fernseher oder Smartphone, bevor du ins Bett fällst und mit einem unguten Gefühl an den nächsten Tag denkst. Gerade wenn du einen anstrengenden Tag hinter dir hast, kann dir achtsames und bewusstes Nachspüren dabei behilflich sein, um deinen Tag wohltuend und genussvoll ausklingen zu lassen. Anstatt in altbekannte Muster zu fallen (mit Junkfood auf das Sofa) kannst du dich bewusst dazu entscheiden, was dir an diesem Abend wirklich gut tun würde. Du spürst, dass die Müdigkeit dich auf das Sofa drängt und deine Gedanken dir vorgaukeln „gönn dir die Chips und zappe mal gemütlich durch das Programm“. An diesem Verhalten ist per se absolut nichts auszusetzen. Auch ich genieße es ab und an, einen Abend mit meinen Lieben auf dem Sofa zu verbringen. Oft ist es jedoch so, dass nach so einem Junk-Abend, wie ich ihn gerne nenne, weder dein Körper noch dein Kopf wirklich entspannt sind. Vielmehr spürst du, dass du mal wieder wertvolle Zeit vergeudet hast, die du wohltuender nützen hättest können. Durch achtsames Selbstmitgefühl kann es dir gelingen, zu erkennen, wieso gerade dabei bist, in alte Muster zu fallen: Aja, ich bin vollkommen ausgelaugt und müde. Mein Körper fällt automatisch ins altbekannte Muster. Das ist nur verständlich und ich möchte mir selbst nach so einem anstrengenden Tag etwas Gutes tun. Achtsam und bewusst kannst du dann klar überlegen: Fühle ich mich besser, wenn ich die ganze Tüte Chips gegessen habe und stundenlang durch das langweilige Programm gezappt bin? Wie sähe die Alternative aus, wenn ich mir selbst mit mehr Selbstmitgefühl begegne und auf mich achte? Wenn du regelmäßig Achtsamkeit geübt hast und auch weiterhin übst, gelingt es dir, immer öfter die für dich bessere Wahl zu treffen. Statt einem Junk-Abend wird es dann vielleicht der gemütliche Abend in der Badewanne mit deinem Lieblingshörbuch, einer schönen Playlist oder einem Telefonat mit einer lieben Freundin. Vielleicht wäre auch ein Spieleabend mit deinen Lieben eine Idee? Oder du nutzt die Zeit, um einmal gar nichts zu tun. Je achtsamer und bewusster du dein Leben gestaltest, desto mehr kannst du dir voll Selbstmitgefühl genau das schenken, was dir gerade gut tut.

Ich hoffe, es gelingt dir, ein bisschen weniger streng zu dir zu sein und dir immer wieder selbst ein Freund zu sein.

Hier gelangst du zur Seite der Psychologin Kristin Neff, sie gibt ihr Wissen über Selbstmitgefühl in Büchern, Seminaren und Retreats weiter: self-compassion.org

In diesem TED-Talk erklärt die Expertin den Unterschied zwischen Selbstwert und Selbstmitgefühl:

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